Vorlesung im Sommersemester 1991, 1992, 1993, 1994


Mathematische Kartographie

Wolfgang K. Seiler


Hauptaufgabe der mathematischen Kartographie ist die sogenannte Kartennetzentwurfslehre, d.h. die Konstruktion von möglichst verzerrungsarmen Abbildungen der Erdoberfläche oder -- häufiger -- eines Teils davon auf die Ebene. Im Rahmen der Genauigkeit, die mit Karten der üblichen Maßstäbe erzielt werden kann, läßt sich die Erdoberfläche problemlos durch ein Sphäroid approximieren, durch ein Ellipsoid mit kreisförmigem Äquator also; für Karten, die einen großen Teil der Erdoberfläche abbilden, kann man sogar von einer Kugel ausgehen. Nach einem Satz von Gauß, dem theorema egregium, lassen sich aber weder die Kugel noch das Sphäroid ganz oder in Teilen verzerrungsfrei auf die Ebene abbilden; man muß also Verzerrungen in Kauf nehmen.

Abhängig vom Verwendungszweck der Karte gibt es vor allem zwei Ansätze:

  1. Für topographische Karten, die in Verbindung mit einem Kompaß oder Theodoliten eingesetzt werden, kommt es in erster Linie darauf an, daß zumindest lokal alle Winkel unverzerrt abgebildet werden. Dieses Ziel ist erreichbar, und die Theorie dieser winkeltreuen Abbildungen ist auch mathematisch sehr gut verstanden: Auf dem Sphäroid gibt es ein ausgezeichnetes Koordinatensystem, die der amtlichen Geodäsie der meisten Länder zugrundeliegenden Gauß-Krüger Koordinaten, so daß eine Abbildung genau dann winkeltreu ist, wenn sie sich nach Identifikation der reellen mit der komplexen Ebene als komplex differenzierbare Funktion der Gauß-Krüger Koordinaten darstellen läßt.
  2. In der thematischen Kartographie geht es darum, Größen wie Bevölkerungszahlen, Wirtschaftsdaten oder Bodenschätze nach regionalen Gesichtspunkten darzustellen; hierfür ist nicht die Gestalt eines Gebiets relevant, sondern seine Fläche. Auch die hierzu notwendigen flächentreuen Abbildungen gibt es, allerdings ist ihre Theorie noch nicht so gut verstanden wie die der winkeltreuen. Trotzdem lassen sich flächentreue Abbildungen mit den in der Praxis üblichen Zusatzbedingungen leicht in Differentialgleichungen übersetzen, die in geschlossener Form lösbar sind.
Ziel der Vorlesung ist es, die theoretischen Grundlagen von Kartennetzentwürfen mit vorgegebenen Eigenschaften herauszuarbeiten und die wichtigsten dieser Entwürfe im Detail zu präsentieren; daneben sollen auch verschiedene Koordiantensysteme für die Erdoberfläche behandelt werden, insbesondere der Zusammenhang zwischen geographischen, geozentrischen und den im Zusammenhang mit Satellitennavigationssystemen wie NAVSTAR-GPS wichtigen dreidimensionalen kartesischen Koordinaten. Die Kartographie ist somit ein sowohl praktisch als auch historisch relevantes Beispiel zur zweidimensionale Differentialgeometrie und - bei den winkeltreuen Entwürfen - zur Funktionentheorie.