Seminar im Herbstsemester 2021:


Mathematische Probleme des Bundestagswahlrechts

W.K. Seiler

Mittwoch, 17.15-18.45 Uhr, B6,26, A3.05

Einführungsveranstaltung am 8. September


Bundestagswahlen werden in Deutschland nach einem personalisierten Verhältniswahlrecht durchgeführt. Der Anteil der Sitze einer Partei im Bundestag sollte daher idealerweise ihrem Stimmanteil entsprechen (sofern gewisse Mindestanforderungen wie mindestens fünf Prozent oder drei Direktmandate erfüllt sind), und außerdem sollte auch noch in jeder Fraktion jedes Bundesland in dem Maße vertreten sein, das seinem Anteil an der Gesamtstimmenzahl der jeweiligen Partei entspricht.

Dieses Ziel ist natürlich nicht exakt erreichbar: Da die Anzahl der abgegebenen Stimmen sehr viel größer als die Anzahl der zu vergebenden Sitze ist, muss es praktisch immer Rundungsfehler geben. Hinzu kommt, dass der in einem Wahlkreis direkt gewählte Kandidat stets in den Bundestag einzieht, so dass es schon im ersten Bundestag zu sogenannten Überhangsmandaten kam, die seit einigen Wahlperioden ganz oder teilweise durch Ausgleichsmandate kompensiert werden, mit denen der Proporz wieder hergestellt werden soll. Dies führte in den letzten Wahlperioden zu einer starken Aufblähung des Deutschen Bundestags, aber auch schon vorher zu Problemen wie dem sogenannten negativen Stimmgewicht, weshalb das Bundesverfassungsgericht 2008 das damals geltende Bundestagswahlrecht als verfassungswidrig einstufte. (Bei der Bundestagswahl 2005 starb der NPD-Direktkandidat für Dresden zwei Wochen vor der Wahl, weshalb die Bundestagswahl dort 14 Tage später stattfand. Da bis dann alle anderen Ergebnisse schon vorlagen, stellte sich heraus, dass die CDU einen Sitz weniger im Bundestag bekäme, wenn sie in Dresden zu viele Zweitstimmen hätte. Um dies zu verhindern, gaben viele CDU-Anhänger ihre Zweitstimme der FDP.)

Im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik wurde das Wahlrecht mehrfach geändert; beispielsweise wurde im Laufe der Jahre nacheinander drei verschiedene Verfahren benutzt, um Stimmanteile in Abgeordentensitze umzurechnen und entsprechend auch die Anteile der einzelnen Bundesländer in den verschiedenen Fraktionen zu bestimmen. Diese Verfahren mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen sollen im Seminar ausführlich behandelt werden, ebenso auch der Umgang mit Überhangsmandaten.

Darüber hinaus soll grundsätzlich diskutiert werden, was man von einem Wahlsystem erwarten kann. Leider gibt es hier vor allem negative Resultate: Beispielsweise zeigte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth J. Arrow schon 1950, dass es kein Wahlverfahren geben kann, dass drei eigentlich selbstverständlich erscheinende einfache Gerechtigkeitsforderungen erfüllt. Schon vorher hatten verschiedene andere Autoren auf Paradoxien in praktisch allen Wahlverfahren hingewiesen.

Vor allem Berufsverbände in Nordamerika verwenden häufig Wahlverfahren, bei denen ihre Mitglieder sich nicht darauf beschränken, für einen Kandidaten zu stimmen, sondern ihre Präferenzliste für die Menge aller Kandidaten aufstellen. Auch hier gibt es verschiedene Verfahren, den Sieger festzustellen, und auch hier gibt es gelegentlich Probleme.

Falls sich genügend viele Vortragende finden, können eventuell auch noch Themen wie Wahlkreiseinteilung und andere behandelt werden.

Hörerkreis: Alle mathematischen Studiengänge (einschließlich Nebenfach). Vorausgesetzt werden nur die Grundvorlesungen des ersten Studienjahrs.